Ankunft in der neuen Heimat

"Fahret se diea Zigeiner dort no, mo se herkommet" schrie er dem Fahrer entgegen und zu uns gewandt "Wa wellet ihr do, ihr Zigeiner? Verschwendet, machet dass ihr fortkommet, dort no mo ihr herkommet!". Das waren die Worte, die wir vom ersten Schwieberdinger, der uns begegnete, zu hören bekamen. Um seiner, in breitem Schwäbisch geäußerten Aufforderung Nachdruck zu geben, schwippte er mit der Ochsenpeitsche, die er in einer Hand hielt. Eine schöne Begrüßung von Deutschen durch einen Deutschen! Was erwartete uns hier bei so einer feindlichen Einstellung? Empörung stieg in uns hoch, denn weder wir, noch unsere Vorfahren sind Zigeuner! Alle hatten zu Hause, von wo wir vertrieben worden sind, einiges vorzuweisen.

Unser Lastzug, ein Lastwagen mit Plane und dreiachsigem, offenem Anhänger, fuhr von der Ludwigsburger Straße geradeaus in die Friedhofstraße, was man damals noch konnte. Auf der Höhe des Friedhofeinganges begegnete uns ein Kuhgespann. Unser Fahrer hielt an und fragte den Gespannlenker nach der Kelter-Turnhalle, unserem Ziel. Es war ein kleiner, schmächtiger Mann. Seinen schmalen Kopf bedeckte eine Schildmütze, ein rotes, geknotetes Halstuch stand in lebhaftem Kontrast zum dunkelblauem Arbeitsanzug, den es nach oben abschloss. Das Auffallendste an ihm war jedoch eine lange, fast bis zum Boden reichende, ebenfalls dunkelblaue Schürze. So etwas gab es bei uns nicht. Kein Mann in Gurschdorf1  trug eine Schürze, außer den Hufschmieden. Doch deren Schürzen waren zum Schutz gegen sprühende Funken aus Leder.

Welchen Weg dieser Schürzenträger dem Fahrer und uns dann wies, kennen wir schon. Zu gern wäre jeder damals freiwillig schnell wieder dorthin zurückgekehrt, woher er kam, am liebsten wären wir erst gar nicht gekommen. Wer wünscht sich schon, von der Scholle vertrieben zu werden, die unsere Vorfahren seit Jahrhunderten bearbeitet, gehegt hatten, wo sie lebten?

Das Schlüsselerlebnis der Schwieberdinger "Begrüßung" korrigierte sich alsbald durch die Hilfe, die uns von vielen Einwohnern zuteil wurde, obwohl sie selbst nichts zu verschenken und gegen Mangel verschiedenster Art zu kämpfen hatten. Dafür gebührt diesen Helfern heute noch Dank und Anerkennung.

Es war trüb und nebelig an jenem 30. Oktober 1946 als wir vom Lager Bietigheim die Fahrt nach Schwieberdingen antraten. Rudi und ich fuhren auf dem offenen Anhänger, was damals noch üblich und tägliche Praxis war, aber heute strengstens verboten ist. Alle anderen hatten sich auf der Zugmaschine unter dem Planenverdeck einen windgeschützten Platz gesucht. Wir beiden sahen dafür schon etwas von der Gegend, in die wir nun endgültig kommen sollten. Das hätte damals niemand geglaubt, dass wir hier bleiben würden, denn es war schon in der Muna, dem Sammellager in Niklasdorf, das Gerücht gestreut worden, wir kämen wieder zurück. Dieses Gerücht hielt sich übrigens noch über mehrere Jahre und hatte wohl den Zweck, die Masse der dreieinhalb Millionen vertriebenen Sudetendeutschen ruhig zu halten.

Einige Einzelheiten sind mir von dieser Fahrt noch lebhaft in Erinnerung. Uns war schon aufgefallen, dass hier an den Straßen keine Kirschbäume standen wie zu Hause in Gurschdorf, sondern Apfel- und Birnbäume. Entlang der Straße von Ludwigsburg, im Bereich, wo heute die Firma Bosch ihren Standort hat, sahen wir auf den Bäumen hoch oben noch vereinzelt Früchte, verlockend schöne, herrlich goldgelbe Birnen. Rudi und ich nahmen uns vor, sie bei nächster Gelegenheit zu holen.

Nun waren wir am zugewiesenen Ziel - an der Kelter-Turnhalle - angekommen. Sie  bot uns ein Dach über dem Kopf und Schutz vor Wind und Wetter. Das war am 30. Oktober 1946. 61 Jahre später, ist diese, unsere erste Unterkunft abgebrochen worden.