Erste Weihnachten in der Fremde

Die ersten Wochen in Schwieberdingen waren vergangen. Es ging auf Weihnachten zu.

Inzwischen hatten wir uns etwas eingelebt. Auch waren einige kleine Vorräte für den Winter gesammelt worden. Auf den gepflügten und geeggten Feldern, wo im Sommer Kartoffeln oder Zuckerrüben angebaut worden waren, kamen durch die Bearbeitung des Bodens vereinzelte, stecken gebliebene Früchte an die Oberfläche. Diese Reste sammelten wir. Aus den Bruchstücken der Zuckerrüben wurde Sirup gekocht, er diente als Brotaufstrich, die Kartoffeln in bekannter Art und Weise zubereitet und verzehrt.

Wehmütig dachten wir auch an jene, die daheim zurück bleiben durften. Wie viele es wirklich waren, blieb zunächst unbekannt. Wie sie wohl diese Weihnachten verbracht haben?

Ich vermisste meine Skier und den bis zu einem Meter hohen Schnee, den wir bei unserem Kontinentalklima jeden Winter hatten und der schon im Oktober einsetzte. Es fehlte mir die mollig warme Stube, mit dem Kachelofen und der unmittelbar daneben liegenden Herdplatte, unter der den ganzen Tag das Holzfeuer brannte. An zwei Seiten des Kachelofens gab es eine hölzerne Bank. Das war mein Lieblingsplatz, wenn ich durchgefroren und nass von Skietouren mit meinen Freunden gegen Abend nach Hause kam. An die warmen Ofenkacheln konnte ich mich anlehnen, Rücken und Hände aufwärmen. Schuhe wurden auf dem Lattenrost unter der Bank abgestellt, Kleidung und Handschuhe zum trocknen ringsum aufgehängt.

Weihnachten ohne viel Schnee kannte ich nicht. Ich dachte an die Eisblumen auf den Innenseiten der Doppelfenster mit den kleinen Scheiben, wie sie bei Wind vom Schnee teilweise zugeweht waren, dachte an den Weihnachtsbaum mit seinen Glaskugeln, die im Licht der brennenden Wachskerzen glitzerten, an das Harz vom Tannenreisig, wenn es im Ofen prasselnd verbrannte und sein typisch würziger Duft sich mit dem von Ingwerbrot und Vanille-Hörnchen vermischte, die Mutter gebacken hatte und fühlte die wohlig heimelige Wärme, die uns umgab.

Hier saßen wir nun in einer kahlen, kühlen, kaum zu erwärmenden Waschküche, so warm bekleidet wie möglich, um den Zustand einigermaßen zu ertragen.

Weihnachten war untrennbar mit einem Besuch in der Kirche verbunden, aber hier war alles evangelisch, das war uns fremd und wir fürchteten, dort unangenehm aufzufallen, vermieden also die hiesige Kirche zu betreten.

Da erfuhren wir, es gebe im Altenheim zwischen Asperg und Markgröningen eine Kapelle, in der eine katholische Weihnachtsfeier zelebriert werde, also entschloss man sich, dort hinzugehen. Wer außer meiner Mutter, mir und einer Tante noch teilnahm, ist mir nicht mehr erinnerlich.

Nur eines weiß ich noch gut: es war bitter kalt. Eine dünne, Schicht Schnee bedeckte die Erde, bei jedem Schritt knirschten die Schuhe und es dauerte sehr lange, bis wir das Ziel erreichten. Es muss am späten Nachmittag gewesen sein, als wir östlich an Markgröningen vorbei über die Felder wanderten, denn auf dem Heimweg erhellte der Mond schon die Landschaft.

Im nächsten Jahr und noch viele Jahre danach durften wir am Heiligen Abend die Mitternachtsmesse in der hiesigen evangelischen Kirche feiern. Was war geschehen?

Der damalige evangelische Pfarrer im Amt war Herr Müller. Er reichte den "Neubürgern", wie die Heimatvertriebenen damals amtlich benannt wurden, seine Hand und bot den vielen zugezogenen Christen von der anderen Fakultät seine Kirche zur Mitbenutzung nicht nur an Weihnachten, sondern über das ganze Jahr an. Wir brauchten uns nicht mehr zu fürchten, die evangelische Kirche zu betreten, wir waren eingeladen, nicht mehr fremd sondern an- und aufgenommen.

Dieser Geste gebührt großer Dank und hohe Anerkennung. Sie ist ein Zeichen früher Ökumene in Schwieberdingen. Herr Pfarrer Braun, hat als Nachfolger von Herrn Pfarrer Müller diese Praxis uneingeschränkt fortgesetzt. Auch ihm gebührt ebensolcher Dank für sein Entgegenkommen.

Bekanntlich hat der Erfolg viele Väter. Jene, die an dieser Maßnahme im Hintergrund mitgewirkt haben und nicht genannt werden können, gilt dieser Dank gleichermaßen.

Dass diese Fremde unsere neue Heimat werden sollte, hat damals kaum jemand geglaubt. Die meisten von uns waren der Meinung, es gehe bald wieder zurück in die alte Heimat. Wunschdenken oder von der Politik lanciertes Beruhigungsmittel?

Damals wussten wir es nicht. Inzwischen ist auch uns bekannt, es war der Abschluss der ethnischen Säuberung, die 1848 auf dem ersten Panslawistenkongress in Prag unter  František Palacký2 als Entgermanisierung des böhmischen Raumes beschlossen worden war. Die Entschliessung hatte folgenden Wortlaut:

"Neben allen Türken aus Europa, allen Italienern vom Ostufer der Adria, allen Finnen von der karelischen Nase bei St. Petersburg müssen alle Millionen Deutsche östlich der Isthmuslinie Triest-Stettin vertrieben werden"

Mit den Möglichkeiten ihres 1918 gegründeten Staatsgebildes konnten sie dieses Ziel nach dem von Deutschland verlorenen Krieg nun verwirklichen.

Es zeigte sich auch bald, dass jene 21 Familien aus Gurschdorf, Steingrund und Niesnersberg, die daheim bleiben "durften", nicht zu beneiden waren. Sie hatten und haben noch heute ein ungleich schwereres Schicksal zu ertragen als wir.

Betrachtet man Weihnachten 1946 als Abschluss eines harten, unverschuldeten Schicksals für uns, wie für viele Millionen andere Deutsche, dann war der Übergang zum neuen Jahr 1947 der Start in ein neues Leben in Recht und Freiheit.

2) František Palacký (* 14. Juni 1798 in Hodslavice, Mähren; † 26. Mai 1876 in Prag) war ein tschechischer Historiker und Politiker. Er idealisierte die grausamen Kriegszüge der Hussiten, die er, als Vertreter einer demokratischen Grundhaltung, für richtig ansah. (Wikipedia)