Wieder in der Schule

Kurze Zeit, nachdem wir in Schwieberdingen eingetroffen waren, wurde ich in der Grundschule am Schulberg in die vierte Klasse aufgenommen. Zu Ende war es nun mit der schönen, schulfreien Zeit, die ich seit April 1945 genossen hatte. Das kam so:
Als sich die Front näherte, wurden in unserer Gegend alle Schulen geschlossen. Die Tschechen erlaubten nach dem 8. Mai 1945 keinen Unterricht für deutsche Kinder. Dieses Verbot hielt sich bis 1948, wie ich später erfuhr..

Die Schule am Berg war damals die einzige im Ort und noch eine "Volksschule" ohne Namen. Heute trägt sie den des ehemaligen Bürgermeisters Hermann Butzer. Rektor war Herr Ritz, ein von Statur kleiner, flinker, aber freundlicher Mann.

"Die Zigarette brauchte ich noch vor ein paar Monaten, um meinen Hunger zu stillen. Jetzt gewöhne ich sie mir langsam wieder ab. Habt bitte Verständnis dafür", sagte Eugen Schnaufer, ein Lehrer der ersten Stunde in der neuen Schule. Im novemberkalten Klassenzimmer stand er vor der Tafel. Ein langer, dunkelblauer Fliegermantel mit hochgeschlagenem Kragen hielt ihn warm. Regelmäßig rauchte er während des Unterrichtes eine selbstgedrehte Zigarette.

Er erklärte uns den Grund: In Rußland hatte er als Soldat lange Zeit verbracht und gehungert. Als Mittel gegen den Hunger hatten er und seine Kameraden geraucht. Die Zigarette im Klassenzimmer war Teil einer langsamen Entwöhnungskur. Niemand wehrte sich damals dagegen. Wir alle waren wahrscheinlich froh, nicht hungern zu müssen und die Eltern hatten auch andere Sorgen, als solchen Belanglosigkeiten nachzugehen.

Nachfolgerin von Herrn Schnaufer war Fräulein Müller, die Tochter des evangelischen Pfarrers. Eine gütige, freundliche Person. Im Jahr 1982 traf ich sie als Mitglied bei der DBV-Ortsgruppe in Schwieberdingen, nach 35 Jahren wieder.

Im Laufe des Jahres 1947 bekamen wir als Lehrer Herrn Dr. Heinz Bauer, ein freundlicher, wenn auch strenger Herr mit einigen sadistischen Eigenschaften. Zu jener Zeit wurde die Prügelstrafe in der Schule noch praktiziert. Als Werkzeug diente ein ca. acht Millimeter dünner und etwa 80 Zentimeter langer, glatter, zäher und biegsamer Stock. Selten brach einer beim Gebrauch, es sei denn, der Lehrer schlug damit auf sein Pult, wobei ein zu langes Stück über dessen Kante hinausragte und knickte.

Sitznachbar war mein Freund Franz Jungbauer, ein "Reingeschmeckter", wie ich. Er stammt aus der Nähe von Krummau im Böhmerwald, war auch Halbwaise und hat keine Geschwister. Insofern verband uns ein ähnliches Schicksal. Er war mit seiner Mutter und der Verwandtschaft vor uns nach Schwieberdingen gekommen.

Mit ihm kampelte ich manchmal während des Unterrichtes unter dem Tisch. Das war natürlich verboten und wie es so geht, erwischte uns dann auch Herr Lehrer Dr. Bauer. Wortlos winkte er uns zu sich. Zögernd, aber gehorsam, wie wir waren, folgten wir der Aufforderung, denn wir wussten, was uns bevorstand. Als wir bei ihm am Pult ankamen, griff er nach dem Stock, doch er schlug nicht zu, sondern reichte mir das Züchtigungswerkzeug. Dann forderte er Franz auf, seine Hand hinzustrecken und mich, darauf einzuschlagen. Ich hatte keine Wahl, ich musste es tun, sonst hätte er selbst den Stock übernommen. Zögernd und mit einem nur mäßigen Schlag führte ich den ersten Streich aus. Doch damit gab sich Herr Doktor nicht zufrieden, ich musste noch zweimal heftiger zuschlagen. Dann kam Franz dran, er brauchte nur zwei Schläge. Mit seiner Schlagstärke war Dr. Heinz Bauer dann ohne Nachschlag einverstanden. Bei dem einen Mal ist es dann auch geblieben.

Schläge dieser Art auf die ausgestreckte, flache Hand nannte man "Tatzen", wie die Pfoten der Katzen. Normalerweise führten die Lehrer oder Lehrerinnen diese Aktion selber aus, mit unterschiedlich schweren Folgen, beispielsweise geschwollene Hände, die noch tagelang schmerzten. Eine beliebte Methode bei den körperlich stärkeren Lehrern waren "Hosenspannes". Dazu legte sich der Vollstrecker den Kandidaten über einen seiner Oberschenkel oder über einen Tisch, zog die Hosen über dessen Allerwertesten straff und schlug mit dem Stock oder der flachen Hand mehrmals kräftig zu.

Fragen des Lehrpersonals nach Gründen und weiteren Beteiligten gab es keine, es wurde vollstreckt!. Gerechterweise gab es in diesem Punkt keinen Unterschied zwischen Einheimischen und "Reingeschmeckten", alle bekamen etwas ab. Dies war keine reine Schwieberdinger Erfahrung, auch in Gurschdorf, ja in ganz Deutschland war zu jener Zeit körperliche Bestrafung gesetzlich zugelassene, gängige Praxis. Mit Protest der Eltern war kaum zu rechnen, weil die verängstigten Kinder davon daheim nichts erwähnten. Wer wünschte sich solche "guten, alten Zeiten" zurück?

Mein erstes und einziges Schuljahr in Schwieberdingen endete im Sommer 1946, nachdem mein Klassenkamerad Herbert W. und ich die Aufnahmeprüfung im Gymnasium Korntal bestanden hatten. Wir fuhren fortan mit dem "Zügle" und sammelten neue Erfahrungen.

Ganz anders erging es gleichzeitig meinen in der alten Heimat zurückbehaltenen Alterskameradinnen und Alterskameraden. Sie durften bis 1948 gar keine Schule besuchen! Danach wurden sie wieder eingeschult, dem Alter entsprechend in Klassen zu  tschechischen Kindern gesetzt. Es gab keine deutschsprachige Hilfe. Deutsch zu sprechen war verboten und hatte Konsequenzen.

Der Stoff wurde auf tschechisch vermittelt und geprüft. Das Ergebnis können Sie sich als Leser leicht vorstellen - ungenügend würden wir hierzulande bewerten und so war es auch.

Eine Lehrstelle oder berufliches Fortkommen war gleich Null. Das besserte sich erst in der nächsten Generation, weil die Kinder der Sprache mächtig waren. In der Öffentlichkeit durfte jedoch weiterhin kein deutsches Wort geäußert werden. Jungen, die die Kirche betraten, hatten keine Aussicht auf einen beruflichen Start außer als Hilfskraft in der Landwirtschaft oder bei Waldarbeiten.